Es gibt Licht, das in der Geschichte der Literatur weiterscheint. Denken wir etwa an das grüne Leuchten am gegenüberliegenden Steg der Bucht von Long Island, das Jay Gatsby von seinem Haus aus sieht, an den Schein der Lampe, unter dem Atticus Finch liest: Das Licht kann in der Literatur als Symbol - der Erkenntnis im Gegensatz zur Dunkelheit der Unwissenheit - oder als Element auftauchen, das Erinnerungen oder Gefühle weckt. Hier sind fünf berühmte lichte Momente, die die großen Erzählungen des vergangenen Jahrhunderts erhellt haben:
1. Das grüne Licht am gegenüberliegenden Steg
Der in New York und Long Island spielende Roman Der große Gatsby (The Great Gatsby) erschien 1925 und gilt als eines der Manifeste der Roaring Twenties sowie als eine Art spirituelle Autobiographie seines Autors Francis Scott Fitzgerald. Er ist einer der bekanntesten Romane der Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts, ein Portrait des amerikanischen Traums und seines Niedergangs. Wenn Jay Gatsby am Abend aus dem Fenster sieht, nimmt er einen grünen Schein am Horizont auf der anderen Seite der Bucht wahr. Er weiß, dass am Ende dieses Piers das Haus von Daisy liegt, seiner großen Jugendliebe. Im Roman-Sommer des Jahres 1922 gelingt es Gatsby zwar, sich seiner Liebe wieder anzunähern, aber nichts ist danach wieder wie zuvor. „Verglichen mit der großen Entfernung, die ihn von Daisy getrennt hatte, war das Licht ihr ganz nah gewesen, hatte sie scheinbar fast berührt. Es schien ihr so nah zu sein wie eine Sternschnuppe dem Mond. Jetzt war es wieder ein einfaches grünes Licht an einem Pier. Seine Sammlung verzauberter Gegenstände hatte sich um eins verkleinert.“ Der Traum von Gatsby, und vielleicht der Traum Amerikas selbst, war ausgeträumt.
Schlussszene des Films:
2. Eine Lache aus rotem Licht
Menschenkind (Beloved), veröffentlicht 1987, wurde 1988 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Der Autorin, Toni Morrison, die am 5. August dieses Jahres verstorben ist, wurde 1993 der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Der unmittelbar nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelte Roman Menschenkind ist die Geschichte von Sethe und ihrer Tochter Denver, die gegen ihre Kondition als Sklavinnen aufbegehren und aus Kentucky in die Freiheit flüchten.
Eine Szene aus dem ersten Kapitel des Romans ist in eine Lache aus rotem Licht getaucht: In der Bluestone Road 124 in Cincinnati leben Sethe und ihre Tochter Denver und das Gespenst ihrer älteren Schwester, die mit nur zwei Jahren starb. Als Paul D, einer der ehemaligen Sklaven der Plantage Sweet Home in Kentucky, auf der Schwelle von Hausnummer 124 erscheint, traut Sethe ihren Augen nicht. Sie bittet ihren alten Freund herein, sich zu stärken. Aber als Paul D das Haus betreten will, taucht er ein in dieses rote Licht und nimmt unmittelbar die böse Präsenz des Gespensts der Tochter wahr. Sethe beruhigt ihn: Es ist keine böse, nur eine traurige Präsenz. Während er noch beschließt einzutreten, wird ihm bewusst, dass Sethe Recht hatte: „Sie war traurig. Während er durch dieses rote Meer drang, wurde Paul D von einer Welle des Schmerzes durchtränkt, die ihn so eng umgab, dass er weinen wollte.“
3. Das elektrische Licht des Cafés
Die zuerst im März 1933 im Scribner’s Magazine veröffentlichte Kurzgeschichte A Clean, Well-Lighted Place von Ernest Hemingway erzählt von einem tauben alten Mann, der zu später Stunde in einem Café trinkt, und von zwei Kellnern, die darauf warten, dass er geht, um zu schließen.
Das diese Erzählung prägende Licht ist das elektrische, nächtliche Licht der Stadt, das der Straßenlaternen und des Lokals. Der ältere Kellner hält es für unabdingbar: Es gibt Menschen wie den älteren Cafébesucher und ihn selbst, für die Cafés nachts geöffnet sein müssen. Diese Cafés schenken all jenen Trost, die „ein Licht für die Nacht brauchen“ oder nach einem Unterschlupf suchen, der nicht nur gut beleuchtet, sondern auch ordentlich und sauber ist. Der alte Kellner spricht mit sich selbst, während er das Lokal schließt, und Hemingway legt ihm einen Gedankengang zur Leere und zur Sinnlosigkeit des Lebens in den Mund. Im Grunde „braucht man nur Licht, eine gewisse Ordnung und eine gewissen Sauberkeit“.
4. Ein Licht der Menschlichkeit
„Wir gingen weiter und erblickten in der Ferne ein einsames Licht.
– Komisch, sagte Jem – das Gefängnis ist doch von außen eigentlich nicht beleuchtet. –
– Ich glaube, das Licht kommt von oberhalb der Tür, – sagte Dill. Ein langes Stromkabel führte durch die Gitter eines Fensters im zweiten Stock und lief die Gebäudemauer herunter. Atticus saß mit dem Rücken an die Eingangstür gelehnt im Licht einer Funzel auf einem der Stühle seines Büros; er las und kümmerte sich nicht um die Insekten, die ihm um den Kopf schwirrten.“ Es gibt eine Lampe, die die dunklen Zeiten aufhellt. Sie findet sich im Meisterwerk von Harper Lee Wer die Nachtigall stört (To Kill a Mockinbird), Gewinner des Pulitzer-Preises für Belletristik 1961 und mittlerweile ein zeitloser Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts. Die fragliche Funzel ist die, in deren Licht der Anwalt Atticus Finch seine Lektüre genießt – vor dem Gefängnis, in dem Tom Robinson unter dem Vorwurf der Vergewaltigung einsitzt. Atticus ist Toms Anwalt und vollauf von seiner Unschuld überzeugt: Die Lektüre, die Lampe, die es ihm ermöglicht, die Schwärze der Nacht zu durchbrechen, stehen symbolisch für seinen Versuch, ein von den langen Schatten des Rassismus gezeichnetes Amerika aufzuklären.
5. Das Licht durch die Zauberlampe
„Um mich an den Abenden, an denen man meine Miene allzu unglücklich fand, zu zerstreuen, war man auf den guten Gedanken verfallen, mir eine Laterna magica zu schenken, die meiner Nachttischlampe aufgesteckt wurde, während wir auf die Abendbrotzeit warteten; und sie ersetzte, ganz nach dem Vorbild der vorzüglichsten Architekten und der Meister der Glasmalerei zu Zeiten der Gotik, die Undurchdringlichkeit der Wände durch ein unfassbares Schillern, durch übernatürliche vielfarbige Erscheinungen, in denen Legenden abgebildet waren wie in einem schwankenden, vorübergleitenden Kirchenfenster.“
In Eine Liebe Swanns (Du côté de chez Swann) gibt es nicht nur Madeleines: Wenn der Erzähler der Recherche sich an seine Kindheit im Dorf Combray erinnert, widmet er auch einen langen Abschnitt seiner Laterna magica, ein Spielzeug und Optikinstrument, das noch heute Faszinationskraft besitzt, ist es doch Erbe jener gotischen Fenster, deren Bilder sich anhand durchsichtig auf die Lampe aufgemalter Formen im Kerzenlicht zu bewegen schienen und sie zu einem Urahn des Kinos machten.