filter search
English - United States flag It looks like you're in North America.

Suche nach Code

Nutze die Filter, um aus unserem Produktsortiment den richtigen Code zu finden.

Code zu finden
Code Finder
Back

Chronotypen und sozialer Jetlag: eine Frage der Gesundheit

Interview mit Till Roenneberg, Chronobiologe an der LMU von München

Tags
Published: 3 Sep 2020
Immer breitere Schichten der Bevölkerung wissen um die Bedeutung eines regelmäßigen Schlaf-Wachrhythmus für die Gesundheit, aber für viele ist es schwierig, dieses Bewusstsein in die Praxis zu überführen. Immer acht Stunden regelmäßig vor dem Aufstehen zu schlafen oder so zu schlafen, dass man am nächsten Tag nicht unausgeschlafen ist, scheint eine Mischung aus Naturtalent und eiserner Selbstdisziplin zu sein: In Wirklichkeit ist es der Effekt des eigenen „Chronotyps“, der vom Licht stark beeinflusst wird.
 
Chronotypen und sozialer Jetlag: eine Frage der Gesundheit

Die Bücher von Till Roenneberg wurden in verschiedene Sprachen übersetzt

Wir wissen, dass die Lichtbedingungen der heutigen Welt, auch aufgrund der Neigung, hinterleuchtete Bildschirm bis spät in die Nacht anzustarren, die Melatonin-Produktion in unserem Körper beeinflusst und bei vielen Menschen eine Verschiebung des Schlaf- Wachrhythmus und damit eine Zunahme des Risikos von Diabetes, Dickleibigkeit, Herz- Kreislauferkrankungen, Tumoren und depressiven Störungen bewirkt. Wir wissen, dass Lighting Designer und Architekten damit beginnen, Gebäude und Lichtanlagen zu planen, die unsere Biorhythmen nicht durcheinanderbringen, sondern begleiten. Aber der Biorhythmus ist nicht derselbe für alle: Wir müssen uns zur Beziehung zwischen der individuellen circadianen Uhr und den von der Gesellschaft aufgestellten Zeiten befragen.

Um dieses Thema zu vertiefen, haben wir Professor Till Roenneberg interviewt, Chronobiologe beim Institut für Klinische Psychologie an der Münchner Ludwig-Maximilians- Universität, der auch Sachbücher dazu schreibt Das Recht auf Schlaf : Eine Kampfschrift für den Schlaf und ein Nachruf auf den Wecker (dtv, 2015).

Was ist ein Chronotyp? Ist er genetisch oder hängt er von externen Faktoren ab?

Die Chronotypen sind Ausdruck der circadianischen Uhr, einem grundlegenden biologischen „Programm“, das wir in allen Organismen bis hin zu den Cyanobakterien finden. Nun hängen grundlegende biologische Programme aber nahezu nie allein von der reinen Genetik oder von einzelnen Umweltfaktoren ab. Denken Sie zum Beispiel an die Größe. Die genetische Komponente ist stark: Wenn Ihre Mutter und Ihr Vater sehr groß waren, dann sind Sie es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch, aber es ist nicht zwingend so. Wenn man zum Beispiel im Krieg geboren wurde und Mangel erlitten hat, werden Sie vielleicht nicht sehr groß, aber unter gleichen Bedingungen immer noch größer als jemand, der kleinere Eltern als Sie hatte. Genauso ist der Chronotyp gleichzeitig von Genetik und Umgebungsfaktoren bedingt.

Wie werden Chronotypen klassifiziert?

Es gibt nicht nur zwei Typen - die Lerchen und die Eulen - sondern ein ganzes Spektrum. Genau wie es wenige sehr große, wenige sehr kleine Menschen gibt, und die meisten Menschen sich zwischen diesen beiden Extremen befinden, gibt es auch ein großes Spektrum unter den Chronotypen, bei dem die „Lerchen“ und die „Eulen“ nur die Extreme abbilden.

Erreicht der individuelle Chronotyp irgendwann eine Stabilität oder kann er sich verändern?

Das Suffix „-typ“ im Wort „Chronotyp“ ist irreführend, scheint es sich doch eher auf statische Charakteristiken zu beziehen, wie blaue Augen, schwarze Haare oder schwarze Haut bei einem Erwachsenen. Natürlich gibt es eine feste genetische Komponente, aber der Chronotyp kann sich entsprechend der Umweltfaktoren stark ändern. Der circadiane Rhythmus ist mit dem Licht-Dunkelheit-Zyklus synchronisiert. Wenn man die eigene Exposition gegenüber dem Licht ändert, führt dies auch zur Änderung des eigenen Chronotyps. Die biologischen Rhythmen einer bestimmten Personengruppe werden sich in die Abend- oder Morgenstunden verschieben, je nachdem, ob diese Gruppe in der Stadt oder auf dem Land lebt.

Bewirken einige Chronotypen Schlafstörungen?

Ich lebe auf einem ehemaligen Bauernhof aus dem 19. Jahrhundert. Die Türen sind sehr niedrig, da die Menschen damals sehr viel kleiner waren als heute. Wenn man groß ist, kann man sich leicht den Kopf am Türrahmen stoßen und sich wehtun, aber deshalb ist man noch nicht krank: Die Wechselwirkung zwischen Ihrer Größe und den Türen erzeugt schlicht Probleme. Mit den Chronotypen verhält es sich ähnlich. Wenn eine bestimmter Person innerhalb der eigenen „biologischen Zeitzone“ (im Einklang mit seinem eigenen Chronotyp) lebt, erleidet sie keine Schlafstörungen und wird kaum zu Depressionen oder anderen Krankheiten neigen. Ist er dagegen gezwungen, gegenüber seiner eigenen Zeitzone verschoben zu leben (im Konflikt mit seinem eigenen Chronotyp), wird eine Spannung erzeugt, die sich zunächst in Schlafstörungen äußert und dann zu einer größeren Wahrscheinlichkeit führt, Krebserkrankungen oder andere Probleme auszubilden. Um den Kontrast zwischen den gesellschaftlich auferlegten Rhythmen und denen unseres Körpers zu markieren, haben wir den Begriff des “sozialen Jetlags” geprägt - eine Quantifizierung der Inkongruenz zwischen circadianem Rhythmus und sozialer Uhr. Das ist der Grund, weshalb Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit erkranken.

Meinen Sie mit „Quantifizierung“, dass der soziale Jetlag gemessen werden kann?

Ja, er entspricht der Differenz zwischen den Uhrzeiten, in denen wir unter der Woche schlafen, und den Zeiten, in denen wir am Wochenende schlafen. Je größer die Menge an Stunden und Minuten sozialen Jetlags des Individuums desto höher die Wahrscheinlichkeit, Schlafstörungen oder andere damit verbundene Probleme auszubilden. Zur Berechnung des sozialen Jetlags haben wir den Begriff der „Schlafmitte“ eingeführt, der in der Nacht gelegene Zeitpunkt, der auf die Hälfte des eigenen Schlafs liegt. Wenn Sie zum Beispiel von Mitternacht bis 8:00 Uhr schlafen, liegt Ihre Schlafmitte um 4:00 Uhr, wenn Sie von 22:00 bis 6:00 Uhr schlafen, haben Sie dieselbe Zahl an Stunden geruht, Ihre Schlafmitte ist aber um 2:00 Uhr. Der soziale Jetlag entspricht der Differenz aus der Schlafmitte am Wochenende und der Schlafmitte unter der Arbeitswoche.

Eine Konferenz von Roenneberg zu sozialem Jetlag auf der DLDwomen 2013

Um den Kontrast zwischen den gesellschaftlich auferlegten Rhythmen und denen unseres Körpers zu markieren, haben wir den Begriff des “sozialen Jetlags” geprägt - eine Quantifizierung der Inkongruenz zwischen circadianem Rhythmus und sozialer Uhr. Das ist der Grund, weshalb Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit erkranken.
Um den sozialen Jetlag zu reduzieren, muss man also seine Schlafstunden unter der Woche denen am Wochenende anpassen?

Wie schön! Man merkt, dass Sie in Europa aufgewachsen sind, weil Sie gleich verstanden haben, dass sich die Schlafrhythmen unter der Woche ändern müssen! Der Großteil der angelsächsischen Welt, einschließlich der US-Amerikaner, glaubt, sich vom sozialen Jetlag befreien zu können, indem der Wecker auch am Wochenende gestellt wird, um die Wochenendzeiten den Zeiten unter der Woche anzupassen. Das liegt wohl am puritanischen Hintergrund, wo langes Schlafen mit Schuldgefühlen assoziiert wird.

Auch in Europa stellt man häufig den Wecker am Wochenende.

Aber das Konzept ist klar: Sie können verstehen, dass Rauchen schädlich ist, und dennoch hin und wieder eine Zigarette rauchen; aber wenn Sie nicht einmal verstehen, dass Rauchen schadet, dann haben wir ein noch viel größeres Problem.

Lassen sich andere Kategorien ausmachen, die für das Konzept des sozialen Jetlags besonders empfänglich oder auch gänzlich unempfindlich sind?

Frühaufsteher verstehen es nicht zur Gänze, weil sie keine Ahnung haben, wie es sich anfühlt, nicht in der Lage zu sein, früh schlafen zu gehen und früh aufzustehen. Unter den Lichtverhältnissen der heutigen Welt neigt der Großteil der Chronotypen heute dazu, Eulen zu sein. Die vielen Frühaufsteher werden aber noch früher aufstehen, denn auch wenn sie unter sozialen Druck bis spät aufbleiben, weckt sie ihre biologische Uhr zuverlässig am frühen Morgen. Die typische Auffassung der Frühaufsteher ist, dass Nachteulen einfach früher ins Bett gehen müssen, um früh aufzustehen und arbeiten gehen zu können. So wie jedoch die Lerche nicht lange schlafen kann, so kann auch die Nachteule nicht einfach früh einschlafen. Und das ist die Krux.

Ein Vortrag von Roenneberg auf dem VELUX Daylight Symposium 2019 in Paris

Kann das Design von Beleuchtung und Gebäuden den sozialen Jetlag reduzieren?

Sicherlich. Man arbeitet daran, aber die bisher vorgelegten Lösungen entsprechen noch nicht meinen Erwartungen. Es gibt zwei Arten, Gesundheitsrisiken in Verbindung mit sozialem Jetlag zu senken. Eine Art wäre, alle Menschen auf den Campingplatz zu verfrachten, um viel Sonnenlicht am Tag und sehr wenig Licht nach Sonnenuntergang aufzunehmen. Wir hätten dasselbe Resultat ohne Campingplatz, wenn wir Gebäude konzipieren, die das Sonnenlicht über Spiegel, Kanäle oder andere Übertragungssysteme vom Dach der Gebäude in die Zimmer aller Stockwerke übermitteln. Dazu müsste viel Licht von oben eintreten, denn von einem seitlichen Fenster hätten wir Lichtreflexe und könnten nicht arbeiten. Die Lichtintensität würde rapide abnehmen je größer die Distanz zum Fenster wird. Daneben müssten sich die künstlichen Lichtquellen in Gebäuden dem eigenen Farbspektrum zu Sonnenauf- und -untergang anpassen, deren Uhrzeiten sich mit den Jahreszeiten ändern. Das Beleuchtungssystem müsste automatisch das blaue Licht nach dem Sonnenuntergang ausschließen, um es nach Sonnenaufgang wieder auszugeben. Dies ist die technische Lösung für den „Campingplatz“ in industriellem Maßstab. Eine zweite Möglichkeit zur Bekämpfung der Gesundheitsrisiken durch sozialen Jetlag wäre, auf vollkommen flexible Arbeitszeiten umzustellen. Wenngleich die Coronavirus-Pandemie ein fürchterliches Ereignis ist, das bereits hunderttausende Menschen getötet hat, hat uns der Lockdown doch klargemacht, dass in vielen Berufen tatsächlich keine Notwendigkeit besteht, Punkt 9:00 Uhr im Büro zu sein.

Derart radikale Lösungen sind scheinbar nicht leicht umzusetzen.
Ich sage nicht, dass es leicht ist. Ich sage, dass man es machen muss.