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Die Schrift der Stadt

Eine Archäologie des Leuchtens, erzählt von Marco Filoni

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Published: 4 Jun 2021
Was geschähe mit unserer Orientierung, wenn wir, nachts durch die Straßen von New York wandernd, an einem Times Square ankämen, dessen Lichter alle ausgeschaltet wären? Wahrscheinlich wäre das Gefühl der Fremdheit so stark, dass wir daran zweifeln würden, uns an einem Ort zu befinden, der unserer Erfahrung – sowohl der direkten als auch der indirekten – nach ein hell erleuchteter Ort ist.

Eben über diese Erfahrung der Beleuchtung der Welt reflektiert der Philosoph Marco Filoni in Giove e il parafulmine. Archeologia luminosa del moderno (etwa: Jupiter und der Blitzableiter. Leuchtarchäologie der Moderne), veröffentlicht bei edizioni volatili, einem Verlag, in dem Bücher mit limitierter Auflage ohne Profit veröffentlicht werden. Die Bücher werden den Autorinnen und Autoren ausgehändigt, die frei über ihre Verteilung verfügen.

Filoni konstruiert eine Leuchtarchäologie der Räume, die wir bewohnen, und erzählt dabei über die sehr moderne Frage der „Eroberung der Nacht: das Versprechen einer technologischen Welt, die den Mond der Dichter verfinstert“. Auf dieser rückwärts gerichteten Reise identifiziert der Philosoph im Übergang zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert das Ende der Jahrhunderte langen, unangefochtenen Herrschaft der Nacht als Raum, der den Gesetzen des Tages fernsteht, an dem man nur schlafen kann und im Schutz der häuslichen vier Wände bleibt. Wenn die Nacht bis dahin ein Raum ohne Sicherheit war, änderte sich die Situation radikal, als die Lichter über dem neuen Jahrhundert angingen. Beleuchtet werden die Objekte, die das Symbol der Modernität des 20. Jahrhunderts par excellence darstellen: die Städte. Die Straßen der Städte bevölkern sich mit Künstlerinnen und Künstlern, Philosophinnen und Philosophen, Intellektuellen, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich, wie echte Detektive, auf die Suche nach Hinweisen machen, die es zu entziffern gilt. Einer davon sind Schilder: Anzeigen, Informationen, Reklame. Es hatte sie schon immer gegeben, zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden sie jedoch zu mehr als einem einfachen Hinweis. „Sie werden zu Eindrücken, in dem Sinne, dass sie einen Abdruck in unserem Leben hinterlassen, unsere Art zu denken und zu handeln ausrichten“. Diese tiefgreifende Verwandlung erfolgt, laut Filoni, mit den ersten Leuchtschildern. Die Erfindung des Neonlichts durch Georges Claude im Jahr 1910 verwandelt die Physiognomie der Straßen völlig.

Filoni schreibt: „Schilder haben das kollektive Bewusstsein aufgebaut. Noch heute konstruieren sie eine Welt, erfinden Blicke, um Städte zu betrachten. Im Laufe ihrer Entwicklung wurden Leuchtschilder zu mehr als einer einzigartigen Weise, einen Eindruck im urbanen Raum zu hinterlassen: Sie sind das Bewusstsein, das die Stadt von sich selbst hat.“ Das ist der Grund für unser Unwohlsein, wenn wir uns an einem Times Square ohne Lichter wiederfinden würden. Es wäre, als befänden wir uns an einem Ort, der das Bewusstsein seiner selbst verloren hat.

Aber ist die Nacht wirklich zu Ende? Das ist die Frage, die sich Marco Filoni am Ende dieser Erkundung der Lichter der Städte stellt. Das Dunkel der städtischen Straßen zum Ende des 19. Jahrhunderts scheint von einem anderen Dunkel abgelöst worden zu sein, einer neuen Polarnacht, vertreten durch die Zeit, in der wir leben. Um sie zu überwinden, benötigten wir laut Filoni Erleuchtungen: Wir müssten erleuchtet werden, das heißt „unsere Zeit in allen ihren Gegensätzen und ihren Kunststückchen erdenken“, mit dem präzisen Zweck, „mit uns selbst abzurechnen, die Spaltungen wieder zusammenzuführen, uns den Ernüchterungen der Welt zu stellen“. In der Erwartung, dass der Morgen kommt.
Filoni konstruiert eine Leuchtarchäologie der Räume, die wir bewohnen, und erzählt dabei über die sehr moderne Frage der „Eroberung der Nacht: das Versprechen einer technologischen Welt, die den Mond der Dichter verfinstert“.
Die Schrift der Stadt

Marco Filoni, Giove e il parafulmine (Jupiter und der Blitzableiter), edizioni volatili, 2020